Licht, Luft und Sonne: Die Wohnstadt Carl Legien von Bruno Taut

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Schriftzug an einem Kopfbau der Wohnstadt Carl Legien von Bruno Taut. (© Clio Berlin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Der Siedlungsbau der späten zwanziger Jahre gehört zu den größten Leistungen der Weimarer Republik. Er drückt den sozialen Impuls in der Architektur der Zeit aus. (Posener 352) Es waren vor allem die auch in den späten zwanziger Jahren noch SPD-regierten Metropolen, wie Hamburg, Frankfurt und insbesondere Berlin, wo mit dem Bau von Großsiedlungen ein bedeutender deutscher Beitrag zum »Neuen Bauen« zur Umsetzung kam. (Posener 344) In Berlin waren es Architekten wie Willhelm Büning, Hans Scharoun und vor allem Bruno Taut die das Wohnen revolutioniert haben: Licht, Luft und Sonne anstatt trister, oft dunkler und feuchter Mietskasernen aus Gründerzeittagen. Dem »Steinernen Berlin« (Werner Hegemann) mit den in Arbeiterbezirken oft überbelegten Kleinst-Wohnungen ohne Bad und WC wurde die aufgelockerte Stadtlandschaft mit viel Grün und solidarischen, egalitären und gleichberechtigten Wohnverhältnissen entgegengesetzt. (Bernau 2) Diese konnten, wie es die Wohnstadt Carl Legien exemplarisch zeigt, aber durchaus auch Urbanität ausstrahlen.

Die Wohnstadt Carl Legien ist einer der sechs Berliner Siedlungen der 1920er Jahre auf der UNESCO Welterbe-Liste. Darunter die »Weiße Stadt« in Reinickendorf, die Siedlung »Der Ring« in Siemensstadt sowie vier Siedlungen des Architekten Bruno Taut: die »Wohnstadt Carl-Legien«, die »Hufeisensiedlung« in Britz, die »Siedlung am Schillerpark« in Wedding und die »Gartenstadt Falkenberg«. Das unter den sechs Berliner Welterbe-Siedlungen gleich vier des Architekten Bruno Taut dabei sind erklärt Denkmalpflegerin Gabi-Dolff Bonekämper wie folgt: »Der Grund dafür ist ganz einfach: Sie sind die besten, die sind unvergleichbar gut. Das ist wie ein Lehrbuch, ein Lehrbuch des Siedlungs- und Wohnanlagenbaus.« (Stock)

Über die Siedlung und ihre Entstehung

Die Wohnstadt Carl Legien wurde nach dem ersten Vorsitzenden des 1919 gegründeten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes benannt. Der Bauherr war die GEHAG (Gemeinnützige Heimstätten-Spar- und Bau-AG), deren künstlerisch leitender Architekt Bruno Taut seit 1924 war; Franz Hillinger war der Leiter der Bauabteilung. Die Siedlung für etwa 4000 Einwohner mit 1149 Wohnungen entstand zwischen 1928 und 1930. Es gab 300 Wohnungen mit 1,5 Zimmern, für Alleinstehende und Paare mit bis zu einem Kind. 643 Wohnungen haben zwei Zimmer, achtzig 2,5 Zimmer, mit 50 bis 60 Quadratmetern für besser gestellte Arbeiterfamilien. Fünf Wohnungen haben drei und 116 3,5 Zimmer, wie sie sich Facharbeiter und Angestellte leisten konnten. Nur vier Wohnungen haben das bürgerliche Format von 4,5 Zimmern. (Bernau 9) Alle Wohnungen verfügten im Gegensatz zu den in Berlin zur damaligen Zeit weitverbreiteten Stube-Küche Wohnungen über eigene Bäder und Einbauküchen.

Unter den sechs Berliner Welterbe-Siedlungen liegt die Carl Legien Siedlung am nächsten an der Innenstadt. Sie grenzt unmittelbar an die dicht bebauten Gründerzeitquartiere. Die hohen Grundstückspreise an diesem Ort bedingten eine entsprechend großstädtische Verdichtung. Hier gibt es ausschließlich Etagenwohnungen. Das zwischen den Zeilen liegende Grün, in Tauts früheren am Stadtrand befindlichen Siedlungen die Gärten von Reihenhäusern, ist hier zu einem Schmuckgrün geworden, welches auch für Gemeinschaftsgärten genutzt wird. (Posener 351) Taut setzte auf eine konzentrierte Stockwerksbauweise und entwarf so eine vier- bis fünfgeschossige Großstadtsiedlung. Mustergültig zeigte er damit auf dem Straßenraster des Hobrechtsplans, dass das »Neue Bauen« den Mietskasernenstädtebau auch auf dessen ureigenem Terrain eine lebenswertere und bessere Wohnbebauung entgegensetzen konnte. Trotz der innenstadtnahen Lage erhielt die Siedlung eine eigenen Infrastruktur, die sie einstmals mit zwei Wäschereien und einem Zentralheizwerk sowie Läden weitgehend autark machte. (Brenne 141)

Städtebauliche Anordnung

Plan Wohnstadt Carl Legien

Lageplan der Wohnstadt Carl Legien von Bruno Taut. Die U-förmigen halbgeschlossenen Gartenhöfe weichen von einem reinen Zeilenbau ab. (© Clio Berlin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Der Lageplan der Wohnstadt weist auf, dass sie keine reine Zeilensiedlung ist. Die zeilenartig angeordneten Bauten sind zur Küselstraße und zum Lindenhoekweg hin durch Querbauten zusammengeschlossen. So entstehen U-förmige Gartenhöfe, die in Richtung Erich-Weinert-Straße hin, der Hauptachse der Siedlung, geöffnet sind.

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Einsicht in den blauen Gartenhof Nord von der Erich-Weinert-Straße aus. Die sich von der Erich-Weinert-Straße aus jeweils gegenüberliegenden Höfe haben dieselbe Farbgebung. Die Hofpaare wiederum unterscheiden sich durch unterschiedliche Farben, was Monotonie vermeiden soll und spannungsreiche Kontraste zu der Begrünung schafft. Die verwendeten Farben sind Rot, Blau, Grün.  (© Clio Berlin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Lediglich der nord-östliche Block ist durch einen eingeschossigen Riegel für Ladengeschäfte auch zur Hauptachse abgeschlossen.

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Riegel vor dem nord-östlichen roten Hof für Ladengeschäfte. Auch die beiden Kopfbauten des nord-östlichen roten Hofes haben Ladenflächen, bzw. ein Café. (© Clio Berlin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Eine weitere signifikante Unterscheidung zum ›orthodoxen‹ Zeilenbau, der idealerweise ästhetisch gleichwertige Bauten verlangt, sind auch die zur Erich-Weinert-Straße hin errichteten turmartigen, kraftvollen Kopfbauten.

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Kopfbauten der Wohnstadt Carl Legien. Die Balkone sind jeweils zu den grünen und ruhigen Gartenhöfen ausgerichtet. (© Clio Berlin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

So wirkt die Wohnstadt gegenüber reinen Zeilenbau-Siedlungen nahezu dicht und urban. Vergleicht man Sie hingegen mit geschlossenen Straßenblöcken, erscheint ihr Raum aufgebrochen, fließend und durchgrünt.

Eck-Fenster

An den zur Hauptachse der Anlage (Erich-Weinert-Straße) angelegten Kopfbauten befinden sich an den jeweils den Höfen abgewendeten Seiten in den vier Obergeschossen über Eck geführte Fenster. Hierbei handelt es sich um ein, die Statik scheinbar aufhebendes beliebtes Avantgarde-Motiv.

Fagus-Werk von Walter Gropius 1911 (© Carsten Janssen, Lizenz: CC-BY-SA-2.0)

Fagus-Werk von Walter Gropius 1911 (© Carsten Janssen, Lizenz: CC-BY-SA-2.0)

Diese Fensterform geht auf die legendäre und wegweisende »Gläserne Ecke« des Fagus-Werk in Alfeld von Walter Gropius von 1911 zurück. (Bernau 7)

Loggien

Im Vergleich zu der traditionellen »Mietskaserne«, in der Balkone meist nur den ›besseren‹ Wohnungen zur Straßenseite vorbehalten waren, hat in der Wohnstadt Carl Legien jede Wohnung einen Balkon oder eine Loggia. Diese bilden aufgrund ihrer Überdachung, Größe, Abgeschlossenheit und Ausrichtung zum Gartenhof im Sommer regelrecht einen weiteren zur Verfügung stehenden Raum. Taut stellt hiermit das alte hierarchische Mietskasernensystem auf den Kopf, indem er den gärtnerisch gestalteten Hof als Mittelpunkt des Wohnens neu definierte. Konsequent legte Taut alle Haupträume der Wohnungen zu den Grünhöfen und Nebenräume wie Bad und Küche zur Straße. Das über alle Geschosse gehende, dem Baukörper vorgelagerte und farblich abgesetzte Loggiensystem setzt so den dunklen Hinterhöfen der ›Mietskaserne‹ Luft, Licht und Sonne entgegen. (Brenne 143)

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Roter süd-östlicher Gartenhof mit unterschiedichen - aber immer großen -, voneinander effektiv getrennten, regengeschützten und ruhig zum Hof gelegen Balkonen. (© Clio Berlin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Sonnenbäder und Frühsport an der frischen Luft galten den Lebensreform-Bewegungen, deren Anhänger auch Bruno Taut war, nicht zuletzt wegen der grassierenden Tuberkulosen als Kernelement einer modernen Wohnung. (Bernau 14)
Die geschlossenen viertelrunden Balkone markieren die Ecken der Kopfbauten zu den Gartenhöfen. Sie sind ein Erkennungszeichen moderner Architektur, das aus Berlin den Weg um die Welt antrat. (Bernau 27) Die viertelkreisförmige Ausrichtung und Gestaltung der Balkone bildet ein, die ansonsten rechtwinklig ausgerichtete Architektur formal auflockerndes Element, welches zusätzlich die Besonnungszeit der Balkone erheblich erhöht. Eine Bewohnerin einer Wohnung mit einem solchen Balkon beschreibt diesen wie folgt: »Der Balkon hat eine Länge von fast 11 Metern. Er geht ja um zwei Zimmer und um die Ecke herum, und die Anordnung ist wirklich so, dass die eine Hälfte ja Morgensonne den ganzen Nachmittag, dann die andere Balkonseite die Einstrahlung hat.« (Stock 2008)

Aussentüren

Man betritt die Häuser durch hölzerne Türen, die einem Standardmodell entsprachen, das Franz Hillinger um 1924 für die GEHAG entwickelt hatte. Ihre grafische Gestaltung ist allerdings exemplarisch für Bruno Taut und verweist auf seinen Anspruch, die Gebäude bis in das kleinste Detail durchzugestalten.

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Aussentür mit nahezu grafischer Ausgestaltung verweist auf die Liebe zum Detail (© Clio Berlin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Der bis auf Hüfthöhe verklinkerte Wandsockel, die flache Stufe aus Klinkerziegeln und die schwarz lackierte Fußleiste der Tür bilden den horizontalen Akzent. Zwei vor grauen Fond leuchtende Farbflächen - rot, blau, gelb oder grün gehalten - und das weiss gestrichene Mittelfeld, das ein über fast die ganze Türhöhe gehendes Fenster einpasst, bilden das vertikale Gegengewicht. Jeder Tür ist ein farblich kontrastierendes kleines Fenster, deren Sohlbank auf Türklinkenhöhe liegt, zur zusätzlichen Belichtung des Eingangsbereiches zugewiesen.

Farbgebung

Die Farbe ist bei Taut ein integraler Bestandteil der Architektur. Im 1919 in der Bauwelt veröffentlichten »Aufruf zum farbigen Bauen« … schreibt Taut: »Die durch die Jahrhunderte gepflegte Tradition der Farbe versank in dem Begriff der ›Vornehmheit‹ … Wir … bekennen uns zur farbigen Architektur … Farbe ist Lebensfreude, und weil sie mit geringen Mitteln zu geben ist, deshalb müssen wir gerade in der Zeit der heutigen Not … auf sie dringen.« (zitiert nach: Schmidt-Thomsen 20)

In der Wohnstadt Carl Legien sind die engen Straßenräume mit einem sonnigen Gelb gehalten, was diese optisch auseinanderzieht. Die jeweils gegenüberliegenden Wohnhöfe bildenen eigene Farbräume, die sinnlich zusammenschmelzen was die Wirkung von Weitläufigkeit steigert. (Brenne 143) Zudem verhindert die abwechlungsreiche Farbgebung Monotonie und schafft spannungsreiche Kontraste zu dem Grün der Gartenhöfe im Sommer und zur Schneelandschaft des Winters. Türen und Fenster weisen eine abwechlungsreiche Farbgebung auf. »An Stelle des schmutzig-grauen Hauses«, so Taut, »trete endlich wieder das blaue, rote, gelbe, grüne, schwarze, weiße Haus in ungebrochener leuchtender Tönung«. (zitiert nach: Schmidt-Thomsen 20)

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Roter Hof mit ehemaliger Wäscherei (© Clio Berlin, Lizenz: CC BY-SA 3.0)

Literatur

Bernau, Nikolaus (2013): Welterbe Wohnstadt Carl Legien Berlin, Berlin.

Brenne, Winfried u.a. (2013): Werkkatalog. in: Brenne, Wienfried, Meister des farbigen Bauens in Berlin. Bruno Taut, 3. Aufl., Berlin, S. 33-156.

Posener, Julius (2013): Vorlesungen zur Geschichte der Neuen Architektur, Bd. 2, Berlin.

Schmidt-Thomsen, Helga (2013): Licht und Farbe bei Bruno Taut, in: Brenne, Wienfried, Meister des farbigen Bauens in Berlin. Bruno Taut, 3. Aufl., Berlin, S. 18-23.

Stock, Adolf (2008): Wohnen im Weltkulturerbe. Deutschland hat sechs Berliner Großsiedlungen zum Weltkulturerbe angemeldet. URL: http://www.deutschlandradiokultur.de/wohnen-im-weltkulturerbe.1001.de.html?dram, abgerufen am 08.07.2008.