Prof. Max Herrmanns Gang zur Einsichtnahme

Max Herrmann ca. 1925 (Quelle: Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsbibliothek)Max Herrmann ca. 1925 (Quelle: Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsbibliothek)

Nach 42-jähriger Lehrtätigkeit wurde der Theaterwissenschaftler Max Herrmann 1933 zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Auch die Arbeit an seinem Buch über die Entstehung der berufsmäßigen Schauspielkunst, der er sich nun widmete, konnte er nur unter größten Schwierigkeiten weiterführen. Bald durfte der angesehene Wissenschaftler - er war »Halbjude« - die Universitätsbibliothek nicht mehr benutzen. Dann wurde ihm der Zutritt zum Lesesaal der Staatsbibliothek verboten, er erhielt wenigstens die »Sondervergünstigung«, Bücher entleihen zu dürfen. Zuletzt war er nur noch berechtigt an Ort und Stelle, in der Ausleihe der Bibliothek, Einsicht in die Bücher zu nehmen.

Im Sommer 1938 ging der betagte Gelehrte zu Fuß von seiner Wohnung in der Augsburger Straße am Bahnhof Zoo zu einer solchen Einsichtnahme in die Staatsbibliothek Unter den Linden. Er ging, denn die Benutzung von Bahnen aller Art war Juden verboten. Durch den Tiergarten konnte er nicht den kürzesten Weg nehmen, weil Juden Grünanlagen nicht betreten durften. Umweg um Umweg musste gemacht werden, zum überqueren gewisser Straßen war er nicht berechtigt. Die Benutzung einer Bank war dem mit einem gelben Stern und von Erschöpfung gezeichneten untersagt.

Nach mehr als zweistündigem Weg kam der Professor in der Ausleihe an und ließ sich tief aufatmend auf einem der Ledersofas sinken - wenige Sekunden später eilte ein Beamter der Ausleihe auf ihn zu und erklärte dem 75-jährigen, er möge aufstehen, als Jude habe er nicht das Recht, irgendwo im Hause der Staatsbibliothek zu sitzen. Mit unnachahmlicher Hoheit und Würde erhob sich Max Herrmann und stellte sich nun an eines der Stehpulte, um dort mit eiserner Energie etwa eine Dreiviertel Stunde stehend zu arbeiten und dann wieder auf sinnlosen Umwegen den über zweistündigen Rückweg anzutreten.

In der Woche vor dem Abtransport nach Theresienstadt konnte er sein Werk beenden; zwei Monate später, am 16. November 1942, kam der Gelehrte im Konzentrationslager ums Leben. Herrmanns Schülerin Ruth Mövius rettete das Manuskript von »Die Entstehung der berufsmäßigen Schauspielkunst im Altertum und in der Neuzeit«. 1962 erschien es im Ostberliner Henschelverlag.

Literatur

Löschburg, Winfried (1976): Unter den Linden. Gesichter und Geschichten einer Straße. Berlin (Ost).