Rezension: Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens

Benjamin Carter Hett: Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens

 

Der 27. Februar 1933, als der Reichstag in Flammen aufging, markiert den eigentlichen Beginn des »Dritten Reiches«. Adolf Hitler, Herrmann Göring und Joseph Goebbels erklärten sofort wahrheitswidrig die Kommunisten zu den Urhebern des Verbrechens und behaupteten, der Reichstagsbrand sei als »Fanal zum blutigen Aufruhr und zum Bürgerkrieg« gedacht. (zitiert nach: Winkler 9) Noch in der Nacht zum 28. Februar ordnete Göring das Verbot der kommunistischen und, auf zwei Wochen begrenzt, der sozialdemokratischen Presse, der Schließung der Parteibüros der KPD und »Schutzhaft« für alle Abgeordneten und Funktionäre dieser Partei an. Am 28. Februar verabschiedete das Reichskabinett die »Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat«, die die »Liquidation des Rechtsstaates in Deutschland« bedeutete. (Winkler 9) Dies als »Reichstagsbrandverordnung« in die Geschichte eingegangene Gesetz blieb bis zum Ende des »Dritten Reichs« in Kraft. Es begründete ein »Regime des permanenten Ausnahmezustandes« und war die rechtliche Grundlage der Gegnerbekämpfung schlechthin. (Herbst 64)

Den nach dem Brand einsetzenden Massenverhaftungen nach vorbereiteten Listen vielen auch Intellektuelle, wie neben anderen der Herausgeber der »Weltbühne«, Carl von Ossietzky, der Schriftsteller Erich Mühsam und der »rasende Reporter« Egon Erwin Kirsch zum Opfer. (Winkler 9) Der in die heiße Phase eintretende Wahlkampf der Reichstagswahl am 5. März 1933 wurde nun in offen terroristische Bahnen gelenkt. (Herbst 64) Terror und Propaganda verfehlten nicht Ihre Wirkung: Aus der Reichstagswahl ging die Regierung Hitler als Siegerin hervor und verfügte nun über eine eigene Mehrheit im Reichstag. Es folgte, was die Nationalsozialisten die »Nationale Revolution« nannten: Die Durchsetzung der unbeschränkten Diktaturgewalt. (Scriba)

In der historischen Forschung ist unbestritten, dass die Nationalsozialisten die Nutznießer des Reichstagsbrandes waren. Die deshalb - Cui bono? - bereits kurz nach dem Brand weit verbreitete Vermutung, der Reichstagsbrand sei von den Nationalsozialisten selbst gelegt worden, um ihn als Rechtfertigung für ihre verschärfte Repressionspolitik und die Durchsetzung der Diktatur zu nutzen, schien allerdings seit den 60er Jahren weitgehend widerlegt. 1959 publizierte der niedersächsische Verfassungsschutz-Beamte Fritz Tobias im Nachrichtenmagazin Spiegel eine Enthüllungsserie, die den Beweis für eine Alleintäterschaft van der Lubbes zum Ziel hatte und von einer folgenden 700 Seiten starken Buchveröffentlichung untermauert wurde. 1964 bestätigte der Historiker Hans Mommsen in einem Gutachten in den angesehenen »Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte« die Analysen von Tobias. So setzte sich die sogenannte »Alleintäterthese« als die »vorherrschende Meinung« (Winkler 9) in den Geschichtswissenschaften mit einer »hinreichenden Klarheit« (Wehler 604) durch. Demnach war der Alleintäter der niederländische Linksanarchist Marinus van der Lubbe, der im brennenden Parlament festgenommen wurde und auch erklärte, die Brandstiftung allein unternommen zu haben, um die deutsche Arbeiterschaft zum Widerstand gegen das NS-Regime aufzurufen.

Mit seiner umfangreiche Studie »Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens« hat sich nun der amerikanische Historiker Benjamin Carter Hett wirkmächtig in die nie ganz verstummte Debatte über die Urheberschaft des Brandes eingeschaltet. Seine Schlussfolgerungen lauten: Mit »einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit» war »van der Lubbe kein Einzeltäter«. (Hett 513) Die Schuldigen sind »wahrscheinlich - mehr als ›wahrscheinlich‹ lässt sich allerdings nicht sagen - in [einer] Gruppe von SA-Männern zu finden, die bereits zuvor diverse Propaganda-Aktionen für Goebbels ausgeführt hatte«. Zu diese Gruppe gehöre Hans Georg Gewehr, ein »innerhalb seiner Organisation allgemein anerkannte[r] SA-Experte für den Gebrauch von Phosphor zu politisch motivierter Brandstiftung«. (Hett 514) Diese auf Basis einer langjährigen Archivrecherche und breitem Quellenmaterial entwickelten Ergebnisse konnten auch zumindest Teile der Fachleute überzeugen. Unter anderem erklärte der renommierte Hitler-Biograf Ian Kershaw gegenüber dem Tagesspiegel, dass er seine Hitler-Biografie in Bezug auf den Reichstagsbrand nach der Lektüre von Hetts Buch anders schreiben würde. Hetts Arbeit lobt er als eine »peinlich genaue Untersuchung« mit überzeugendem Ergebnis.

Das 633 Seiten starke Buch ließt sich zum Teil spannend wie ein Krimi und einen solchen erzählt es ja letztlich auch. Hett gibt tiefe Einblicke in die Ermittlungen der Gestapo und in den Reichstagsbrandprozeß. Ihm gelingt es anhand neuer Quellen zu beweisen, dass die Aussagen hochrangiger in den Fall involvierter Gestapo-Beamter in den 50er Jahren, die die Alleintäterthese stützten, im Widerspruch zu ihren früheren Aussagen standen. Durch eine minutiöse Rekonstruktion der Brandnacht und die Auswertung der Aussagen der Brandexperten im Reichstagsbrandprozeß stellt er in Frage, dass van der Lubbe überhaupt in der Lage war, die umfangreichen Brände in der kürze der Zeit und mit dem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln alleine zu entfachen. Er rekonstruiert nebulöse Morde an Mitwissern und potentiellen Tatbeteiligten in der SA. Er deckt die Beziehungen diverser Alt-Nazis und Ex-Nazis zum SPIEGEL und Fritz Tobias in der Nachkriegszeit auf.

Auch eine zentrale, bisher nicht verwendete Quelle hat Hett ausgerechnet in einem Aktenordner aus dem Archiv von Fritz Tobias entdeckt, welchen dieser ihm für eine Nacht überließ. Einen Brief des ersten Gestapo-Chefs Rudolf Diels. »In dieser Nacht, die ich damit verbrachte, mich in einem Hannoveraner Hotelzimmer seitenweise durch Akten zu arbeiten«, so Hett, »stieß ich auf einen Brief den Diels 1946 an die britische Delegation in Nürnberg geschickt hatte. Ich las die Anschuldigungen, die er gegen ›Heini‹ Gewehr erhob, die darin gipfelten, dass Diels behauptete, Gewehr habe den Reichstag in Brand gesetzt und sich damit ›dieses ersten Verbrechens der Nationalsozialisten‹ schuldig gemacht. [...] Wo hatte Tobias dieses Dokument her? Wie lange war es schon in seinem Beseitz? Warum hat er es nie erwähnt? Warum hatte er immer so darauf bestanden, dass Diels nicht über den Reichstagsbrand wisse? Als ich Tobias die Aktenordner am nächsten Tag zurückgab, hatte sich meine Sicht auf den Reichstagsbrand grundlegend gewandelt.« (Hett 538)

Insgesamt ein hochspannendes, wissenschaftlich fundiertes und lesenswertes Buch, welches dem im Untertitel formulierten Anspruch durchaus gerecht geworden ist: Das Verfahren wurde wiederaufgenommen.

»Der Reichstagsbrand. Wiederaufnahme eines Verfahrens« von Benjamin Carter Hett ist im Rowohlt Verlag erschienen (633 Seiten).

Literatur

Ludolf Herbst (1995): 
Das nationalsozialistische Deutschland - 1933–1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Frankfurt/Main.

Hans Mommsen (1964): Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 12. Jg. 1964, Heft 4, S. 351–413.

Arnulf Scriba (2015): Der Reichstagsbrand. In: Lemo, URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/etablierung-der-ns-herrschaft/reichstagsbrand.html (abgerufen am 20.07.2017).

Fritz Tobias (1962): Der Reichstagsbrand – Legende und Wirklichkeit, Rastatt.

Hans-Ulrich Wehler (2003): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München.

Winkler, Heinrich August (2001): Der lange Weg nach Westen. Band 1. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München.